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Die Blätzlemutter in der Konstanzer Blätzlebuebe-Zunft e.V.

Am 11.11.1999 konnte Gertrud Dietrich ihr fünfzigjähriges Jubiläum als Blätzlemutter feiern. Anläßlich dieses Ereignisses widmet ihr die Blätzlebuebe-Zunft diesen Bericht, der auch im Narrenboten der Vereinigung schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte veröffentlicht ist.

Die Figur der Blätzlemutter ist eine von vielen Eigenheiten, die bei den Blätzlebuebe von der gängigen närrischen Norm abweicht. Nicht zuletzt ist deren Entstehung ein Produkt der erfolgreichen Bemühungen des nachmaligen Blätzlevatters Ludwig Müller, dem es trotz widriger Umstände gelungen ist, das Blätzlehäs und den Blätzlebue vor dem Aussterben zu bewahren. Zu diesem Erfolg hat seine Ehefrau Hadwig einen ganz erheblichen Beitrag geleistet. Sie war es, die 1934, innerhalb nur eines Jahres, die zur Herstellung von 7 Blätzlehäsern notwendigen rund 20'000 Blätzle "ausschnitt, stanzte, umnähte und wendete". Laut eigenen Angaben soll ihr der Blätzlevatter dabei geholfen haben. Hadwig war fortan diejenige, welche bei Fehlschlägen in den Gründerjahren der Zunft aufmunterte, Schnittmuster an neue Zunftmitglieder ausgab, beim Nähen und Schneidern half und so auf ihre Weise zum Gelingen des Projektes Blätzlebuebe beigetragen hat. Es verwundert denn auch nicht, daß die wenigen Blätzlebuebe am Schmutzige Dunschdig 1935 Hadwig und Ludwig - im Sinne richtiger Eltern - Mutter und Vatter nannten. Seither gibt es eine Blätzlemutter. Bis zu seinem Tod im Jahre 1966 war Ludwig Müller nun der Blätzlevatter und einziger Träger dieses Titels.

"Am 11.11.1949 ernannte ich Fräulein Gertrud Dietrich zur Blätzlemutter" schreibt der Blätzlevatter in der Zunftchronik. Und weiter: "Bis zu diesem Jahr hat mich meine liebe Frau Hadwig tatkräftig und aufopfernd als wahre Mutter der Blätz unterstützt. Jetzt gab sie mir den Rat, ihre Stelle durch eine jüngere Kraft zu ersetzen." In der Tat besaß Hadwig Müller zeitlebens nicht eine robuste Gesundheit und die inzwischen kräftig angewachsene Schar der Blätzlebuebe überstieg ihre Kräfte. Anläßlich des 25jährigen Bestehens der Zunft wird Hadwig Müller mit dem Titel "Unsere Oma" geehrt.

Die Blätzle-Oma verstarb am 27. Juni 1965 unter großer Anteilnahme der Blätzlebuebe.

Zu diesem Zeitpunkt ist Blätzlemutter Gerdrud Dietrich längst eine bekannte Persönlichkeit und aus der Blätzlebuebe-Zunft nicht mehr wegzudenken. Gertrud wird zum Inbegriff der Blätzlemutter. Daß sie eine Vorgängerin hatte, ist vielen Narren unbekannt - sehr zu unrecht! Deswegen habe ich der ersten Blätzlemutter und einzigen Oma, Hadwig Müller, so viel Platz eingeräumt. Die am 11.11.1949 erkorene Gertrud Dietrich ist damals nicht mehr ganz junge 39 Jahre alt. Sie entstammt einer alten Konstanzer Bürgerfamihe. Ihr Vater, Dr. Ernst Dietrich, war von 1919 bis 1927 erster Bürgermeister der Stadt Konstanz. Mütterlicherseits stammt Gertrud aus der Hoteldynastie der Miehle. Ihr Vetter, Fritz Miehle, war im Jahre 1934 Gründungsmitglied der Zunft. Gertrud Dietrich besitzt früh eine eigenwillige Persönlichkeit, die sich, für damalige Verhältnisse, über alle Normen hinwegsetzt. Sie studierte an der Technischen Hochschule in München und schloß mit einem Kaufmannsdiplom ab. Ihre Promotion scheiterte am NS-Staat (,,Frauen gehören an den Herd") und dessen restriktiver Hochschulpolitik. 1938 näht sich die Studentin ein Blätzlehäs und läuft, zusammen mit einem Überlinger Hänsele, in München beim Faschingsumzug mit. Die beiden holen den 1. Preis für die originellste Maske.

"Sie (die Blätzlemutter) besitzt eine Altkonstanzer Tracht mit echter Goldhaube und wird nun mich oder meinen Stellvertreter bei allen öffentlichen Zunftveranstaltungen begleiten" schreibt Ludwig Müller voll Begeisterung. Die unternehmungslustige und durchsetzungsfähige Blätzlemutter nimmt diese Aufgabe mit Bravour und Eigenständigkeit wahr.

Nicht selten wird der Blätzlemutter die Führung oder die Mitführung von Abordnungen der Blätzlebuebe bei Narrentreffen allerorten anvertraut: Riedlingen 1956, Schwenningen und Cannstatt 1957, Kreuzlingen und Zürich 1959, Ermatingen und Singen 1960, Engen 1961, Hüfingen 1962 usw. Angesichts derart großen weiblichen Selbstverständnisses in einer Zeit vor Alice Schwarzer ist die Kollision mit der (fast) noch heilen Männerwelt unvermeidlich: Im Sommer 1957 folgte die Offenburger Hexenzunft mit ca. 30 Narren einer Einladung der Blätzlebuebe nach Konstanz, von wo man gemeinsame Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung unternahm. Der Blätzlevatter schreibt: ,,Die Offenburger Hexen haben einen großen Fehler begangen. Sie korrespondierten ausschließlich mit der Blätzlemutter anstatt mit der Zunft selbst. Daher wußte man nicht recht, galt er der Blätzlemutter und ihrem weiblichen Anhang oder galt er der Zunft. Der Blätzlevatter war auf Sommerurlaub, die 9er Räte streikten und der Zunftmeister kam sich reichlich deplaziert vor, insbesondere, da die Blätzlemutter die Initiative an sich riß. Verstimmungen waren die logische Folge. Diese konnten erst nach 2 Ratssitzungen ... teilweise beigelegt werden. Zur "Verdauung" ließ sich der Zunftmeister Hugo Stuhler auf die Dauer eines Jahres beurlauben. "So kann's gehen!"

1956 etabliert sich bei der Blätzlemutter ein Kaffeehock am Schmutzige Dunschdig nach dem Wecken, der fortan zur Tradition wird. Ihre Gastfreundschaft ist im übrigen weithin bekannt und auch noch heutzutage bewirtet Gertrud ihre närrischen Gäste mit ganz hervorragenden Fasnetsküechle und einem exzellenten, selbstgemachten Nußlikör, der in ihrer behaglichen Biedermeierwohnung Sehmüchte nach der vielgerühmten guten, alten Zeit aulkommen läßt. Völlig selbstverständlich wird Gertrud in die Festlegung der Zunft-Statuten einbezogen, die am 11.11.1952 als Ergebnis u.a. einen Neunerrat bestimmen, dem auch die Blätzlemutter und der Polizeiblätz als Beiräte angehören. Aufgrund ihrer hervorragenden Ausbildung war die Blätzlemutter eine willkommene Hilfe bei der Formulierung der Statuten.

Daß so reichhaltiges, närrisches Zunftleben den Stoff liefert, aus dem Anekdoten werden, liegt auf der Hand. Der Chronist berichtet: ,,Am 28. und 29. Januar 56 fand das Große Narrentreffen... bei den Gole's in Riedlingen statt.... Mancher Blätzlebue und manches Blätzlemädle und auch die Blätzlemutter sollen sich sogar verliebt haben." Im Herbst 1956 lud Gertrud zu einem Zwiebelkuchenessen ein, wo sie ihr streng gehütetes Gemeimnis lüftete. Sie hatte in Riedlingen stundenlang mit einem Narren poussiert. Dieser entpuppte sich später als Farrenhalter. Blätzlevatter Ludwig Müller nahm dieses Geständnis und eine Zeitungsannonce, mit der ein ,,Spitzenfarren" für 8'900.- Mark zum Verkauf angeboten wurde, zum Anlaß, um der Blätzlemutter ein wüstes Gedicht zu widmen:

Narrentreffen sind ein Mittel
unbekannt sich zu verlieben!
Farrenhalter, Narrenbüttel
sind nicht sichtbar ausgeschrieben.
Farrenhalter sind begehret
beim verliebten Rendez-vous.
Farrenspitze sich bewähret
bei der ausgewachsenen Kuh!

Wer den Schaden hat, spottet jeder Beschreibung! Anläßlich des Großen Narrentreffens, das 1964 in Offenburg stattfand, wurden Blätzlemutter und -vatter ihrer närrischen Verdienste wegen vom Präsidenten der Vereinigung schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte, Hans Ströhle, geehrt. Das Paar stand als unangefochtener Repräsentant der Blätzlebuebe-Zunft in großem Ansehen. So weit - so gut.

1965 stirbt die erste Blätzlemutter und einzige Blätzleoma Hadwig Müller. Ihr folgt, im 81. Lebensjahr, nur ein Jahr später, Blätzlevatter Ludwig Müller. Von nun an werden die Zunftgeschicke ausschließlich vom Neunerrat bestimmt. Das Zunftleben geht seinen bewährten Gang. 1968 kann der von Ludwig Müller initiierte Blätzlebrunnen nach langwierigen Geburtswehen glanzvoll eingeweiht werden. Der Blätzlevatter erlebt diesen Triumph leider nicht mehr. Die Zunft wendet sich größeren Aufgaben zu. Man plant, das Große Narrentreffen 1972 in Konstanz auszurichten und erhält hierfür auch den Zuschlag von der Vereinigung. 1970 - mitten in die Vorbereitungszeit - fallen Schatten. Die Abspaltung der späteren sogenannten Freien Blätz nimmt ihren Anfang. Am 26.2.1971 verlassen drei Mitglieder den Narrenrat. Blätzlemutter Gertrud Dietrich verhält sich abwartend. Dennoch erklärt sie sich bereit, an der Vorbereitung zum Großen Narrentreffen mitzuarbeiten. Dem war bedauerlicherweise nicht so. Die Organisation blieb an den "überlebenden" Narrenräten hängen. Ohne die bedingungslose Mitarbeit derer Frauen und einiger Blätzlebuebe wäre das Vorhaben gescheitert. Das für die Blätzlebuebe-Zunft letztlich glorreich abgelaufene Narrentreffen hatte ein bitteres Nachspiel: Im März 1972 wurde die Blätzlemutter wegen ihrer Untätigkeit vor und während des Narrentreffens aus dem Narrenrat ausgeschlossen. Die einst gemeinsam beschrittenen Wege gehen von nun an auseinander. Nichtsdestoweniger ist und bleibt Gertrud Dietrich Blätzlemutter. Diesen Titel wird sie dereinst mitnehmen. Indessen hat die zunftpolitische Weggabelung weder ihrer Person noch ihrer Ausstrahlung geschadet. Ihr gastliches Haus steht immer noch jedem anständigen Narren offen. Immer noch sind ihre Fasnetküechle und ihr Nußlikör von einzigartiger Qualität und immer noch wird sie um ihrer Orden willen von jungen und alten Narren regelrecht belagert. All dies mit der Einschränkung des körperlichen Vermögens, das einem Menschen im hohen Alter von 88 Jahren noch verblieben ist.

Als Blätzlemutter hat Gertrud Dietrich alle närrischen Höhen und Tiefen erlebt - wie im richtigen Leben. Ohne sie wäre die Konstanzer Blätzlebuebe-Zunft nicht diesselbe und ist seit dem 21.01.2002 um einen originellen Menschen ärmer. Die Blätzlebuebe-Zunft ist ihrer Blätzlemutter zu großem Dank verpflichtet.


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23.01.2002
Uli Topka
Hahneschrei Fasnacht 1999, Autor: Narrenrat Peter Längle